Deutsche im Dornröschenschlaf ?

Deutsche im Dornröschenschlaf ?

29.03.2022 00:33

Der Psychologe Stephan Grünewald erforscht Langzeitfolgen von Krisen. Den Deutschen attestiert er eine Schockstarre, die auch daraus resultiert, dass der Krieg nah, aber "in unserem Auenland alles friedlich ist". Hier erklärt der Experte Bewältigungsstrategien - die nicht alle funktionieren.

Herr Grünewald, erst zwei Jahre Corona-Stress, nun Krieg wenige Hundert Kilometer von Deutschland entfernt. Wie steht es um die Deutschen?

Stephan Grünewald: Es geht ja noch weiter zurück. Nach der Staatsschuldenkrise in Europa folgte 2015 der Konflikt um die Einwanderung. Danach kam Corona. Inzwischen dominiert in der Bevölkerung eine Grundstimmung der Melancholie und Resignation, die wir beim Rheingold-Institut mit dem Begriff "Melancovid" gefasst haben. Das Gefühl der Aussichtslosigkeit macht sich breit. Man versucht immer wieder Dinge, die scheitern, weil die nächste Welle oder die nächste Krise einen einholt. Und jetzt der Krieg, der zu einer Art Schockstarre geführt hat. Man gibt sich seinem Schicksal hin.

Der Krieg hat also den Trend, Trübsal zu blasen, weiter verschärft, aber die Situation wollen nicht alle wahrhaben?


Die Nation hält Dornröschenschlaf. Der jetzige Zustand der Welt ist für viele, viele Menschen sehr schwierig zu verdauen. Durch den Kriegseintritt hat das Leben noch mal eine ganz andere Unwirklichkeit bekommen. Der Krieg findet vor der Haustür statt. Aber wenn man rausgeht, sieht alles so wie immer aus. Die Menschen sorgen sich zugleich, auch weil offen über Atombomben gesprochen wird. Sie wissen: Der Krieg kann uns treffen, wir werden Opfer bringen müssen. Auf der anderen Seite sind wir aber in unserem deutschen Auenland, in dem alles friedlich ist, der Frühling kommt, die Sonne scheint und die Läden noch relativ voll sind.

Dass der Krieg auch Deutschland betrifft, ist also bei den Menschen schon wegen der Nähe zur Ukraine mental voll angekommen?


Alle sehen täglich den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Fernsehen, der auf das Leid in seinem Land verweist und von uns Deutschen verlangt, dass wir größere Opfer bringen. Sei es, dass wir auf die Gas- und Öl- und Kohleimporte aus Russland verzichten, sei es, dass wir unser Sicherheitsbestreben überdenken. Das geht an den Menschen nicht spurlos vorüber. In den Befragungen des Rheingold-Instituts war eine starke Bereitschaft zu erkennen, Opfer zu bringen.

Entsteht durch den Krieg und das Bewusstsein, Abstriche am eigenen Leben machen zu müssen, ein neues Feindbild: "der Russe"?

Das kann passieren. Sehr viele Menschen in Deutschland glauben: Ist Putin weg, wird alles gut. Deshalb und wegen des allgemeinen Ohnmachtsgefühls hoffen sie auf höheren Beistand, dass entweder der chinesische Führer mäßigend auf Putin einwirkt, ihn an die Kandare nimmt, oder ihn die Völkergemeinschaft geschlossen zur Raison bringt. Eine andere Hoffnung bezieht sich auf das russische Volk, dass es selber auf die Straße geht und seinen Präsidenten aus dem Verkehr zieht. Da wird schon noch sehr genau differenziert. Es kann aber sein, dass die Menschen im Laufe des Krieges merken, dass die russische Nation geschlossen hinter Putin steht. Dann lässt sich die Bedrohung nicht mehr als 'Putins Krieg' personalisieren.

Wie fällt der Vergleich zwischen Putin und Selenskyj aus?

Putin ist in der Wahrnehmung der Menschen hierzulande der wahnsinnige und unberechenbare Aggressor, dem sein eigenes Volk egal ist, der alles tut, den Krieg zu gewinnen. Selenskyj wird hingegen als zugänglicher Held empfunden, der trotz der schlimmen Situation Kampfgeist und Zuversicht vermittelt. Er ist klar in der Aussage, ohne dass das Gefühl entsteht, dass er Hass sät. Obwohl er seine Leute einschwört, kommt er nicht als Kriegstreiber rüber.

Haben Sie in Ihren Befragungen Leute erlebt, die Todeswünsche gegenüber Putin aussprechen?

Unbewusst hegen sie viele, aussprechen tut sie niemand explizit. Das wird eher verklausuliert formuliert.

Selbst wenn es nicht offen gesagt wird, sagt das viel über die Stimmung und Ängste der Deutschen. Gibt es Strategien, mit dem Krieg umzugehen?

Wir haben sechs Bewältigungsstrategien festgestellt, mit der die Menschen aus ihrer Ohnmacht kommen wollen. Die erste ist ein ständiges Updaten der Nachrichtenlage in der Hoffnung, dass die erlösende News vom Kriegsende kommt. Das zieht aber noch mehr runter, da die frohe Botschaft ausbleibt. Die zweite Strategie ist die Beschwörung von Normalität inklusive Ablenkungsmanöver: die Menschen stürzen sich in Arbeit oder sie gehen shoppen oder wandern, um den Kopf freizubekommen. Die dritte Strategie ist zu helfen, indem man Geld spendet, Pakete packt oder Wohnraum für Flüchtlinge bereitstellt.

Bleiben noch drei andere Varianten.


Die vierte ist, sich solidarisch zu zeigen durch Taten, in Gesprächen oder Demonstrationen. So spürt man eine Verbundenheit und hat das Gefühl, dass die Masse was bewegen kann, was der Einzelne nicht schafft. Fluchtgedanken sind die fünfte Bewältigungsstrategie. Einige haben gedanklich schon die Koffer gepackt oder überlegen zumindest, wohin sie auswandern würden. Die sechste Möglichkeit hatte ich schon genannt: auf höheren Beistand hoffen. Und wenn das nicht funktioniert, also wenn China oder das russische Volk nicht helfen, dann hilft man sich zumindest selbst, indem man Lebensmittel hamstert und sich für den Notfall ausrüstet.

Welche Strategie hilft besonders und welche geht besonders nach hinten los?

Die sechs Bewältigungsstrategien haben eine unterschiedliche Erfolgsbilanz. Man kann sich auch täglich besaufen, um etwas Schlimmes zu verkraften. Aber das ist weder tragfähig noch wirkt es langfristig. Im Minutentakt News zu lesen, zieht einen immer tiefer runter. Man hofft und hofft auf die Wende, aber es gibt immer nur neue Gräuelnachrichten. Das schlägt schwer aufs Gemüt.

In der Pandemie konnte man das Gefühl haben, dass das Land durchdreht, wie auch die Polarisierung zeigte. Kann der Krieg dazu führen, dass die Menschen wieder zusammenrücken und die Rationalität zunimmt? Oder erwarten Sie das Gegenteil?

Die Irrationalität wird bleiben. Kriegsängste sind ja zum Teil auch irrational, aber was wir jetzt erleben, findet nun mal wirklich unbestreitbar statt. Wir sehen aber auch, dass ein externer Feind die Menschen in Europa und sogar weltweit zusammenschweißt. Vor drei Wochen im Bundestag konnte man es erleben, dass der äußere Feind eher den inneren Zusammenschluss fördert. Langfristig werden wir wieder in die Polarisierung geraten.

Können Sie eine Aussage dazu treffen, was mit den Kindern passiert, die Corona und jetzt diesen Krieg erleben? Wie können Jungen, Mädchen und Jugendliche damit umgehen?


Wir machen gerade eine große Studie zu dem Thema, die in einigen Wochen veröffentlicht wird. Was sich bisher abzeichnet, zeige ich an einem Beispiel aus der Corona-Zeit. Die Lockdown-Phasen waren ja so etwas wie ein kollektiver Vorruhestand, der verordnet wurde. Und das können ältere Semester natürlich besser verknusen als junge Leute, die reisen, in die Disco und sexuelle Erfahrungen sammeln wollen. Die haben zum Teil erlebt, wie sich ihr ganzer Alltag auflöst, inklusive der Tag-Nacht-Struktur. Einige haben sich zurückgezogen und in ihren Internetwolken abgeschottet. Diese Gruppe wird Schwierigkeiten haben, wieder ins soziale Leben reinzukommen.

Das ist dann also eine große Herausforderung für die Gesellschaft in Zukunft, richtig?

Ja, auf alle Fälle. Das wird uns noch sehr beschäftigen.

Mit Stephan Grünewald sprach Thomas Schmoll

(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 22. März 2022 erstmals veröffentlicht.)


Ursprünglich erschienen auf: https://www.n-tv.de/panorama/Langzeitfol...ab-global-de-DE


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