Mich hat heute eine Mail von meinem Kollegen Olaf Gersemann von der Zeitung WELT mit folgendem Inhalt erreicht, die ich gerne veröffentliche:
Lieber Herr Weichert,
wir kennen diese Leier, sie läuft seit November: Ein paar Wochen noch durchhalten, dann können wir uns wieder mehr, nein, umso mehr erlauben. Immer wieder appellierten Ministerpräsidenten und Kanzlerin in der Corona-Pandemie an die Duldsamkeit der Bevölkerung. In der Sache mag das, im Rückblick betrachtet, alles in allem der richtige Weg gewesen sein – und die richtige Taktik auch. Doch die Durchhalteparolen haben sich abgenutzt, sie sind zur ermüdenden Routine geworden und auch zu ärgerlicher Rechthaberei.
Konkret geht es den Repräsentanten von Union und SPD vor allem darum, der von ihnen konzipierten „Bundesnotbremse“ Patentrezeptstatus zu verleihen. Sie sei es gewesen, heißt es unentwegt aus den Parteien der Groko, die die dritte Infektionswelle in Deutschland gebrochen habe. So will man wohl auch in den Bundestagswahlkampf ziehen: Am Ende hätten weise politische Entscheidungen in Berlin den Unterschied gemacht beim Sieg über das Virus. Diese Erzählung hat einen Haken: Sie stimmt nicht. Denn die Trendwende in der dritten Infektionswelle ist zeitlich früher zu verorten.
Ausgangssperren & Co. haben vielleicht anfangs geholfen, die neue Abwärtsdynamik zu stabilisieren – mehr aber auch nicht. Die Triebkräfte für die Trendwende müssen andere gewesen sein, vermutlich eine Mischung aus Saisonalität und Impfeffekt. Nun aber werden die vor Wochen erst beschlossenen Maßnahmen beharrlich verteidigt gegen die Kritik von FDP, Linken und AfD (die Grünen im Bundestag hatten sich bezeichnenderweise per Enthaltung weggeduckt). Das mag parteitaktisch richtig sein, dem Land dient es nicht. Jetzt noch an den starren Inzidenz-Schwellenwerten von 100, 150 und 165 und einheitlichen Mindeststandards für Lockdown-Maßnahmen festzuhalten, wird der Sache weniger denn je gerecht.
Es besteht viel Grund zur Zuversicht, zumindest für die kommenden Sommermonate. Welche und wie viele Schutzmaßnahmen noch nötig sind, um das Virus einzudämmen, wird von Ort zu Ort unterschiedlich sein: Im Landkreis Hildburghausen (aktuelle Inzidenz: 218) wird die Antwort vermutlich eine andere sein als in Flensburg-Schleswig (9,9). Die Zeit aber, in der Infektionswellen tatsächlich quer durchs Land schwappen, sind erst einmal vorbei. Wenn sich aktuell überhaupt ein wellenartiger Effekt beobachten lässt, dann der umgekehrte: die Niedriginzidenzen aus dem Norden breiten sich nach und nach gen Süden aus.
Unabhängig davon, ob die mit der „Bundesnotbremse“ verankerten paternalistischen Mindeststandards jemals sachgerecht und verhältnismäßig waren: Jetzt sind sie es nicht mehr, ihre Geschäftsgrundlage ist entfallen. Das Risiko, das in den kommenden Wochen von etwaigen überhasteten Lockerungen in Hildburghausen für Flensburg ausgehen würde, ist im mikroskopischen Bereich angesiedelt. Und deshalb gehört die Verantwortung schleunigst wieder in die Hände der Bundesländer, von wo sie, soweit möglich, weitergereicht werden sollte an Bürgermeister und Landräte. Die „Bundesnotbremse", mit anderen Worten, muss weg. So schnell wie möglich.
Olaf Gersemann WELT.de - Ressortleiter Wirtschaft
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